Ahnenlinien

Anneke Polenski • 6. Oktober 2025

Anneke Polenski 28.09.2025 Limbergen/Münsterland 
Instagramm: polenski.creative www.flying-dolphins.de

Ahnenlinien

Ich sitze unter der alten, mächtigen Linde. Die Erde unter ihr, ein Teppich aus braunen, gelben und grauen Blättern so trocken , dass sich jedes Blatt krümmt und biegt, unter meinen Schritten wie altes Papier raschelt.

Der Holztisch mit den fünf Stühlen leer geträumt. Nur der Spätsommer erzählt noch etwas vage:
von den letzten Partygästen, dem Gläserklirren, von Gesprächsfetzen, den vielen Weinflaschen, Brotkrumen für die Spatzen, die unbemerkt wie die Mücken mitfeierten und von einem Mond, der der im Verborgenen still lauscht.
Und so sehe ich noch die bunten Hüte, die vertrauten Gesten einer kleinen Freundesgruppe, 
höre zwischen den grünen Lindenblättern ihr Lachen, ihr Flüstern in lauer Nacht.

Mich erfasst die Herbst-kühle. Sanft aber bestimmt, verweist der Herbst die Sommerträume, die Liebeleien, die dünnen Sommerkleider der Frauen mit unsichtbarer Kraft und schattiger Strenge. Verweist sie des Ortes, des Platzes. Fordert den ihren ein.
Und so umringt der Zaun mit feuchten Herbstfarben, das Haus, das Innere mit gedämpften Farben, dazwischen all die Rottöne. Eine Vertrautheit des Vergehens, des Welkens liegt mit seinem süßlich-herben Duft in der Luft. Der Wildwuchs des Sommers wird still.

Ich blicke zu den Obstbäumen hinter dem alten pfälzischen Bauernhaus.
Die Erde hält ihre Hände auf, feuchter Boden empfängt die Klänge, die roten Äpfel, die gelb-grünen Birnen. Vom Haus her erklingt Klaviermusik.
Eingehüllt und dösend, überfallen mich Bilder an das schlichte Landleben unserer Ahnen, unserer Großmütter, Erinnerungen, die nicht nur meine sind: Die gute Stube ist durchtränkt von ihrem Schweiß, ihrer Ernte, ihren Schwielen an den Händen, ihren Tränen.
Gottes ehrfürchtig eingefügt ihr Frau-sein in die Gittermuster der Männerwelt, - damals:

Sie hatten ihre Hausgeburten, ihre Ammen, ihre Kinder, ihren Wäschetrog.
Und einige Frauen trugen Sandmasken. Das Brutale schaut von Ferne in diese Zeit.
Schandmasken, die Strafe für Waschweiber und ihrem Klatsch und Tratsch, wenn sie Geheimnisse und Vergehen der Männerwelt aufdeckten, Tabus brachen. Schmerzlicher Sprachverlust die Folge, bis heute.
Wie an endlosen Wäscheleinen sehe ich ihre Kleider des Lebens.
Hochzeits- und Taufentuch, Kleider des Gebärens, Leidens und Sterbens. Aus Sack und Linnen, Samt und Seide eher selten. Nur den Reichen vergönnt, aber auch diese voller Frauenleiden.
Alles wurde irgendwann gereinigt, gesäubert vom Dreck des Lebens, musste getrocknet werden und erzählte dem Wind der Zeit ihre Frauengeschichten, die keiner hörte.

In meiner DNA gibt es Schubladen, Regale, Wäscheschränke, die über Familienbande und Ahnen- Linien nach und nach befüllt wurden.
Von den Ur-Ur-Urgroßmüttern, Großmüttern, Tanten hin zur eigenen Mutter, die mit der Geburt des Kindes das ihrige an uns weitergaben.
Heute fangen die Frauen an, auszulüften. Die Kleidungsstücke erstaunt, verstört oder liebevoll anzuschauen, noch mal in den Wind der Vergangenheit zu halten, um Spuren zu entdecken, die die Zeit nicht reinwaschen konnte. Anschauen, zuhören, weglegen oder liebevoll in das eigene Lebensregal hängen, ihr, unser Tun.
Das geschieht in unserer Zeit, in unserem Land immer mehr.
Dabei erkennen wir auch ähnliche Muster in den Kleidungs- und Wäschestücken anderer Kulturen.
Doch das ist eine andere Geschichte.
Denn nicht alle Kulturen trocken ihre Kleidung an den Wäscheleinen im Wind.

 Anneke Polenski 28.09.2025 Limbergen/Münsterland Instagramm: polenski.creative www.flying-dolphins.de