Menschlichkeit - Auszüge einer Rede über Lessing
Hannah Arendt • 1. Oktober 2025
Zur Inspiration einen Text von Hannah Arendt; Auszug aus: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten – Rede über Lessing- 28.09.1959 (von dem wir finden, er passt gut in diese Zeit)
„.. Es geht um die Frage, wie viel Wirklichkeit auch in einer unmenschlich gewordenen Welt festgehalten werden muss, um Menschlichkeit nicht zu einer Phrase oder einem anderen Phantom werden zu lassen. Oder anders gewendet, wie weit man der Welt auch dann noch verpflichtet bleibt, wenn man aus ihr verjagt oder sich aus ihr zurückgezogen hat.
Denn ich möchte natürlich keineswegs behaupten, dass die innere Emigration, die Flucht aus der Welt in die Verborgenheit, aus der Öffentlichkeit in die Anonymität ……in vielen Fällen sogar die einzig mögliche Haltung gewesen ist. Die Weltflucht in den finsteren Zeiten der Ohnmacht ist immer zu rechtfertigen, solange die Wirklichkeit nicht ignoriert wird, sondern… das, wovor man flieht, in der ständigen Präsenz gehalten wird. Wo Menschen sich so verhalten, kann auch das Private eine zwar immer noch ohnmächtige, aber keineswegs belanglose Wirklichkeit erhalten…
…Man muss wissen, dass man sich ständig auf der Flucht befindet und das die Flucht die Wirklichkeit ist, in der die Welt sich meldet. So stammt denn auch die eigentliche Kraft der Weltflucht aus der Verfolgung und die persönliche Stärke der Fliehenden wächst, je größer Verfolgung und Gefahr werden.
Dabei darf man aber die Grenze der politischen Bedeutung einer solchen Existenz…nicht übersehen. Die Grenze liegt darin, dass Kraft und Macht nicht dasselbe sind, dass Macht nur dort entsteht, wo Menschen zusammen handeln, aber nicht, wo Menschen als einzelne stärker werden. Keine Stärke ist je groß genug, um Macht ersetzen zu können; wo Stärke mit Macht konfrontiert ist, wird sie immer erliegen. Aber auch die Kraft, zu fliehen und in der Flucht zu widerstehen…kann sich nicht bilden, wo die Wirklichkeit übersprungen oder vergessen wird- sei es, dass man sich selbst für zu gut und edel hält, um mit einer solchen Welt überhaupt konfrontiert zu werden, oder dass man das schlechterdings Negative der gerade herrschenden Weltumstände nicht aushält. So anziehend es sein mag, solchen Versuchungen nachzugeben und sich in dem Asyl des Inneren häuslich einzurichten- und wer wäre nicht versucht gewesen, das unter anderem auch unerträglich dumme Geschwätz der Nazis einfach zu überhören?-, das Resultat wird immer sein, dass man die Menschlichkeit mit der Wirklichkeit wie das Kind mit dem Bade ausschüttet…“